Das Wort zum Sonntag - von Pastor Axel Stahlmann

Nachricht Celle, 28. April 2022

Wahnsinn und Normalität

Eine Frau joggt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew vorbei an zerstörten Wohngebäuden und einem von Schüssen durchlöcherten Auto. So ein Foto in der CZ vom vergangenen Donnerstag.  Vielleicht ist das der Versuch, inmitten des Chaos ein bisschen Normalität zu erleben. Vielleicht kann die unbekannte Frau auf diese Weise auch für ein paar Minuten das vergessen, was um sie herum an Schrecklichem passiert. Wir wissen es nicht.

Beides gehört zu unserer Welt: Schrecken und Schönheit

Mich hat dieses Bild sehr berührt.  Es macht auf seine Weise deutlich, dass beides zu unserer Welt gehört: Der Schrecken und das Schöne, der Wahnsinn und die Normalität. Beides war schon immer da – im Kleinen wie im Großen. Denn der Krieg in Syrien verursacht bis heute millionenfaches Leid. In Afghanistan ist nichts mehr gut. Nur kommt uns der Krieg mit all seinen Folgen durch den Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine plötzlich so nah. Längst sind auch Flüchtlinge bei uns angekommen.

Und in der eigenen kleinen Welt ist es doch nicht anders: Da sterben Menschen mit Mitte 60 an Krebs. Es gibt Mobbing am Arbeitsplatz. Familien zerbrechen. Diese Liste kann jeder für sich verlängern.

Aber das ist eben immer nur die eine Seite unserer Welt. Es wird Frühling an allen Ecken und Ende. Die Bäume schieben ihre Blüten behutsam ins Licht.  Eltern freuen sich auf die Geburt ihrer Kinder, genau wie Großeltern auf ihre Enkel. Das alles gehört auch zur Wirklichkeit unserer Welt.

Leben jenseits dessen, was wir uns vorstellen können

In diese Welt hinein, die zur Zeitenwende gewiss nicht besser war als heute, ist Gott in Bethlehem Mensch geworden – für uns. In der Osterzeit haben wir besonders daran gedacht, wie Jesus unter seinen Mitmenschen gelitten hat: Verrat und Verleugnung durch seine engsten Freunde, ein politischer Prozess mit falschen Zeugenaussagen, Folter und schließlich sein grausamer Tod am Kreuz. Aber dieser Tod hatte nicht das letzte Wort über seinem Leben. Denn Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Kaum zu glauben, aber wahr. Und seitdem gehören zu unserer Welt nicht nur Leben und Tod. Auch unzeitiger, sinnloser, grausamer Tod. Sondern ebenso Tod und Leben. Neues Leben. Leben jenseits dessen, was wir uns vorstellen können.

Für mich ist die joggende Frau inmitten des Krieges ein Sinnbild für dieses neue, andere, unvorstellbare Leben.

Axel Stahlmann ist Pastor der St. Lamberti-Gemeinde in Bergen