„Es geht immer noch darum, irgendwie am Leben zu bleiben“

Nachricht Celle, 20. Juli 2022

Interview mit dem ukrainischen Professor Aliaksei Zhurauliou

Aliaksei Zhurauliou arbeitete als Universitätsprofessor in Kiew, bevor der Krieg ausbrach. Jetzt versucht er in Celle seinen Landsleuten zu helfen – und das eigene Trauma zu überwinden

 

Aliaksei Zhurauliou, welche persönliche Verbindung haben Sie zu Niedersachsen?
Aliaksei Zhurauliou: Ich bin in Weißrussland geboren worden, nicht weit entfernt von Tschernobyl. Als Kind war ich Teilnehmer an einem Projekt, das Kinder aus dem Umkreis der Katastrophe zur Erholung nach Deutschland schickte. Jahrelang war ich Gast bei einer Familie in Niedersachsen. Ein bisschen Deutsch von damals ist noch geblieben. (Sagt auf Deutsch): Ich möchte ein Schinkenbrot essen! (Lacht.) Eine leider schon verstorbene Tante der Familie stammte aus Celle. Als Russland 2014 die Krim besetzte, sagte mir mein alter Gastvater – ein Mann mit eigenen Fluchterfahrungen – dass diese Wohnung immer für mich freistehen würde. Damals hätte ich nie im Leben damit gerechnet, einmal selbst vor dem Krieg fliehen zu müssen. Jetzt wohne ich seit einigen Monaten in dieser Wohnung.

Wie sah Ihr Leben aus, bevor am 24. Februar 2022 der Krieg in der Ukraine begann?
Ich habe als Universitätsprofessor in Kiew gearbeitet, mein Fachgebiet befasst sich mit der ökonomischen Statistik. Es geht dabei zum Beispiel um die verschiedenen Einflüsse auf die Volkswirtschaften, auch so etwas wie den „Level of Happiness“, also den Grad der Glücklichkeit und wie das unser Leben beeinflusst. Die Professur hatte ich bis zum Beginn des Krieges seit vier Jahren inne. Ich wohnte mit meiner Freundin zusammen in einer schönen Wohnung, hatte einen guten Draht zu meiner in Charkow lebendenden Tochter, viele gute Freunde – und führte ein sehr schönes Leben.

Wie war der Alltag in Kiew, bevor die ersten russischen Panzer die Grenze überquerten?
Die Straßen waren voll, die Menschen saßen nach Feierabend in den Bars und Restaurants – in den fünf Jahren vor dem Krieg war Kiew meiner Meinung nach eine der schönsten Städte Europas. Bezahlbare Mieten, eine großartige Stadt mit Menschen aus aller Welt, internationale Flughäfen drum herum – es war einfach toll, in dieser Stadt zu leben.

Haben Sie keine Angst vor dem drohenden Krieg gehabt?
Trotz der Situation im Donbass und den russischen Drohgebärden hätte ich es nie für möglich gehalten, dass Krieg in Kiew herrschen würde. Vielleicht habe ich das wie die allermeisten meiner Landsleute auch einfach verdrängt, weil man das nicht wahrhaben wollte. Russland und Ukraine im Krieg – das wollte ich einfach nicht glauben.

Wie haben Sie die Stunden rund um den Kriegsbeginn mitbekommen?
Am Abend zuvor, also am 23. Februar, war ich im Supermarkt einkaufen, nur ganz wenige Menschen waren unterwegs. Ich machte meinen Einkaufswagen voll, kaufte Wein für meine Freundin und mich. Später saßen wir gemütlich zusammen, prosteten uns zu und gingen irgendwann schlafen. Gegen fünf Uhr morgens bin ich von einem lauten Knall geweckt worden, die Scheiben klirrten. Die ersten Raketen waren eingeschlagen. Der Krieg hatte begonnen. Für mich und alle anderen war das ein Schock.

Bei all dem, was man heute weiß, warum war sich selbst in Kiew niemand der Gefahr bewusst?
Ich hatte einen amerikanischen Kollegen, der mir schon sechs Wochen vorher in den Ohren lag: „Da passiert bald etwas.“ Ich dachte nur: Naja, der schaut zu viel CNN. Kiew war so ein wunderbarer Ort, so international, so global, es war für mich einfach nicht vorstellbar, dass es hier tatsächlich Krieg geben könnte. Auf unseren Nachrichtensendern sprach niemand von einer drohenden Eskalation an der Grenze. Und alles, was in der Ostukraine passierte, schien unendlich weit weg.

Wie reagierten Sie, als Kiew unter Beschuss genommen wurde?
Ein großer Vorteil für uns: Der Kühlschrank war frisch aufgefüllt. Meine erste Sorge galt meiner Tochter, die ersten Tage ging es für mich nur darum, dass sie in Sicherheit gebracht werden würde. Ihre Mutter arbeitet für einen niederländischen TV-Sender, der Sender organisierte die Flucht per Eisenbahn. Ich war sehr erleichtert, als mir meine Tochter am Telefon mitteilte, dass der Zug soeben Charkow verlassen hatte. Zuhause erkundigte ich mich im Internet nach der bestmöglichen Sicherheitsoption und las von der Zwei-Raum-Regel: Zwei Wände sind in der Regel ein guter Schutz vor Bombeneinschlägen oder Splittern. Also holten wir die Matratzen aus dem Schlafzimmer und übernachteten im Flur. Das erschien uns klüger, als in den Keller zu gehen.

Wie schafft man es, in diesen unwirklichen ersten Tagen nicht die Nerven zu verlieren?
Alles, was wir taten, war, die Nachrichten zu sehen, zu hören oder zu lesen. Es war eine einzige Informationsexplosion. Um nicht komplett durchzudrehen, sahen wir uns zwischendurch Natur-Dokus an. Die ganze Situation war unwirklich.

Wann dachten Sie das erste Mal an Flucht?
Als meine Tochter in Sicherheit war. Ich suchte ein paar Klamotten zusammen, packte meinen Laptop ein und dann setzten wir uns ins Auto und fuhren los. Mit zwei Wagen fuhren wir Kolonne Richtung Polen. Für die 600 Kilometer benötigten wir fast 20 Stunden. Die Straßen waren voller Autos und pro Tankstelle bekam man nur 20 Liter Sprit pro Fahrzeug. Die Schlangen vor den Zapfsäulen waren endlos, aber wir hielten trotzdem bei jeder Gelegenheit. Zu groß war die Gefahr, irgendwo auf freier Strecke ohne Benzin zu sein. Den Geschmack in meinem Mund auf dieser Fahrt werde ich nicht vergessen. Es war der bittere Geschmack einer außergewöhnlichen Stresssituation.

Welche Erfahrungen haben Sie an der Grenze gemacht?
Ich habe von Menschen gehört, die 60 Stunden an der Grenze warten mussten. Wir hatten Glück und wurden von den Beamten einfach nach Polen durchgewunken. Ohne echte Kontrollen. Universitätskollegen aus Polen brachten uns im Hotel unter und kümmerten sich um uns, eine tolle Geste. Die ersten Nächte bin ich ständig aufgewacht und habe die ganze Situation einfach nicht begreifen wollen. Wo bin ich hier? Warum schlafe ich in einem fremden Bett? Und wie wird es weitergehen? Nach ein paar Wochen war mir klar, dass ich noch weiter Richtung Westen gehen musste, um von dort wenigstens irgendwas zu tun. Über meine alten Kontakte kamen wir schließlich nach Niedersachsen.

Wie erging es Ihnen in der Anfangszeit in Deutschland?
Mein Vorteil ist, dass ich die westliche Welt und gerade Deutschland sehr gut kenne. Die deutsche Kultur, das deutsche Benehmen, das deutsche Essen – damit bin ich aufgewachsen. Gleichzeitig ist die Situation weiterhin surreal. In Kiew wohnte ich mit meiner Freundin in einem tollen Haus in der Stadt, wir hatten sogar ein Sommerhaus, uns ging es sehr gut. Jetzt sind wir Geflüchtete, die in einer kleinen Wohnung ohne Gas-Anschluss leben müssen.

Auch Deutschland wurde vom Kriegsausbruch überrascht. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Helfer*innen und offiziellen Stellen gemacht?
Ich bin sehr oft nach Hannover gefahren, auf dem Messegelände war ein Flüchtlingslager aufgebaut worden und die Helfer*innen vor Ort waren alle großartig und haben uns Schritt für Schritt geholfen und unterstützt. Von offizieller Seite, speziell in Celle, würde ich mir eine noch klarere Kommunikation und Information wünschen, beispielsweise eine auf Ukrainisch und Russisch übersetzte Homepage, wo alle Fragen der Geflüchteten beantwortet werden. Was sehr gut geholfen hat, war die Vernetzung über die sozialen Medien, beispielsweise in Telegramm-Gruppen.

Sie sind Ende 30 und sind rechtzeitig geflohen, bevor ukrainische Männer zwischen 16 und 60 das Land nicht mehr verlassen durften. Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie nicht geblieben sind, um zu kämpfen?
Niemand zwingt uns, Soldaten zu sein. Die Rekrutierungsstellen waren in den ersten Wochen und Monaten so überlaufen, dass viele Freiwillige wieder weggeschickt wurden. Ich für meinen Teil weiß, dass ich zum Kämpfen nicht zu gebrauchen bin. Aber ich habe andere Fähigkeiten und ich glaube, dass ich die gegenwärtig in Deutschland besser anwenden kann, um meinem Land zu helfen. Von daher habe ich auch keine Schuldgefühle.

Hat Sie das Verhalten von Putin und Russland eigentlich überrascht?
Tatsächlich ja. Heute weiß ich, dass ich mich wie viele andere Ukrainer*innen nicht genügend für die politischen Verhältnisse interessiert habe. Ich hätte bis zuletzt nicht gedacht, dass es Krieg geben würde. Erst jetzt erkenne ich, wie Putin 20 Jahre lang das vorbereitet hat, was gerade stattfindet. Die Auslöschung der Opposition, die Anpassung der Medien, all diese Sachen. Dazu mit Weißrusslands Lukaschenko einen Gauleiter als Co-Aggressor. Er hat den Russen erlaubt, dass sie von seinem Land aus die Ukraine überfallen. Für mich ist dieses Verhalten genauso pervers.

Apropos perverses Verhalten. Wie bewerten Sie die Causa Gerhard Schröder?
Es ist viel leichter, blind zu bleiben, als zu erkennen, was tatsächlich passiert. Schröder ist nur einer von vielen. Ich habe einen Freund, der beim Zoll in Charkow gearbeitet hat. Bei ein paar Bieren fragte ich ihn, warum sich die Korruption in der Ukraine so schlecht bekämpfen lässt. Da erzählte er mir, dass regelmäßig Menschen beim Zoll auftauchen, eine Tasche mit Geld auf den Tisch stellen und sagen: „Wenn du das und das unterschreibst, bekommst du jeden Monat so eine Tasche.“ Es ist nicht leicht, da nein zu sagen, wenn man 500 Euro im Monat verdient und 20.000 Euro in der Tasche sind – und man bei einem Nein vermutlich mit Konsequenzen zu rechnen hat. Ähnlich ist es doch auch auf politischer Ebene passiert. Putin hat die Welt mit seinem Geld und seinem Gas blind gemacht.

Warum haben die Russen zugelassen, dass es so weit gekommen ist?
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele pro-russische Menschen allein in der Ukraine leben. Oder in Deutschland. Menschen, die ganz klar auf Putins Seite stehen. Ich höre sie in der Schlange vor der Tafel miteinander auf Russisch sprechen. Sie warten auf Putin, der sie befreien soll. Diese Menschen sehnen sich nach der alten russischen Welt, nach der Rückkehr der Sowjetunion. Das ist die Realität.

Das ist aus deutscher Sicht sehr schwer vorstellbar.
Ich bekomme jeden Morgen eine SMS von einer Bekannten aus Charkow, die mir schreibt, dass sie noch am Leben ist. Diese Frau muss fürchten, von russischen Raketen getötet zu werden. Und trotzdem wartet sie sehnsüchtig auf Putin.

Warum ist das so?
Russland hat sehr viel Zeit und Geld und Aufwand in die Propaganda investiert. Und Propaganda funktioniert.

Der Krieg ist nun schon einige Monate im Gange. Wie denken Sie aktuell darüber?
Je mehr Informationen ich bekomme, desto weniger weiß ich Bescheid. Es ist alles so unwirklich, so falsch. Neulich bekam ich eine Nachricht von einer meiner Studentinnen, die nach Kriegsausbruch in den Süden der Ukraine zu ihren Eltern fuhr. Das Gebiet wurde bald von den russischen Soldaten besetzt. Sie schrieb mir, dass sie leider keine Kraft mehr habe, an den Online-Kursen teilzunehmen, weil sie der Anblick der russischen Flagge so hilf- und kraftlos mache. Letztlich ist die Lage immer noch so wie am ersten Tag des Krieges: Es geht darum, irgendwie am Leben zu bleiben.

Wie haben Sie sich inzwischen in Celle eingelebt?
Als der erste Schock überwunden war, nahm ich mir vor, den Deutschen zu helfen, die Ukrainer*innen halfen. Ich schrieb viele Mails, unter anderem an Superintendentin Andrea Burgk-Lempart, die meine Anfrage an die Diakonie weiterleitete. Dort habe ich inzwischen ein Büro bekomme und biete mich als Integrationshelfer für Ukrainer*innen in Celle an. Jeden Montag von 9 bis 11 Uhr ist eine offene Sprechstunde in der Fritzenwiese 7, gerne können auch Termine per E-Mail unter diana.schoenenberger@evlka.de vereinbart werden.

Was benötigen die Geflüchteten am meisten?
Als Ökonom sehe ich, dass Menschen, die vor ein paar Wochen und Monaten noch zu Fuß zur Tafel kamen, jetzt mit dem Fahrrad kommen. Sie haben Wohnungen, bekommen Sozialhilfe und werden anderweitig unterstützt. Sehr begehrt sind gegenwärtig Sprachlehrer*innen, sämtliche Kurse sind voll.

Wie geht es Ihrer Tochter?
Sie lebt jetzt 230 Kilometer entfernt von mit in Groningen, das sind drei Stunden Autofahrt. Ich sehe sie regelmäßig und bin froh, dass es ihr dort so gut geht. Groningen ist eine reiche Stadt, der Arbeitgeber meiner Ex-Frau kümmert sich sehr gut um sie.

Wie wird es für Sie weitergehen?
Ich bin zwiegespalten. Natürlich bin ich traumatisiert durch Krieg und Flucht. Andererseits lebe ich jetzt in Deutschland, kann endlich richtig die Sprache lernen und genieße das friedliche Leben im schönen Celle. Dann wiederum frage ich mich, was aus mir und uns werden wird. Mein Aufenthalt ist für zwei Jahre genehmigt. Was passiert 2024? Ich denke von Tag zu Tag. Aktuell habe ich die Möglichkeit, ein paar Studenten in Hildesheim zu unterrichten. Ein Anfang. Für meine Tochter würde ich mir wünschen, dass sie dauerhaft in Holland bleibt. Das Leben dort wäre für sie schöner.

Würden Sie gerne zurück nach Kiew?
Das würde ich, aber nach Kiew gehen, hieße auch, meine Tochter nur noch sehr selten zu sehen. Und deshalb bleibe ich hier und warte darauf, dass ich ihr Celle zeigen kann. Ohne sie wäre ich vermutlich schon wieder nach Hause gegangen.