„Noch immer wird jede Hilfe benötigt“

Nachricht 25. August 2021

Interview mit Christina Bernschein über die Hochwasserkatastrophe

Christina Bernschein, Pastorin in der Ev.-luth. Auferstehungsgemeinde in Hambühren, wuchs im Landkreis Ahrweiler auf. Sie berichtet von geradezu grotesken Zerstörungen, nicht enden wollenden Aufräumarbeiten und wie die Medien die Hilfsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung beeinflussen.

 

Christina Bernschein, welche Verbindungen haben Sie in die Hochwasser-Region im Südwesten des Landes?
Ich war sieben, als meine Eltern mit mir in die Gemeinde Grafschaft im Landkreis Ahrweiler zogen. Hier bin ich groß geworden, wurde in Bad Neuenahr konfirmiert und habe dort auch mein Abi gemacht. Erst für mein Studium und später Vikariat in Köln habe ich die Gegend verlassen. Der enge Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden hält allerdings bis heute.

Wie würden Sie Ihre alte Heimat beschreiben?
Es ist eine sehr ländliche geprägte Region, und als nördlichstes Rotwein-Anbaugebiet ein sehr beliebtes Reiseziel für Naturliebhaber und Urlauber. Die Gegend lebt von Weinbau, Tourismus und Kurgästen. Schützen- oder Weinfeste auf den Dörfern und in den Stadtteilen sind fester Bestandteil des Lebens vor Ort. Die ganze Gegend hat eine sehr lange Tradition, bei Ausgrabungen hat man Grundmauern von Villen der Römer gefunden, vermutlich wurde auch damals schon hier Wein angebaut. Überhaupt ist die ganze Kultur sehr lebendig, sehr offen, ich komme immer wieder gerne zurück in den Landkreis.

Wie haben Sie von der beginnenden Katastrophe erfahren?
Als unsere Abi-WhatsApp-Gruppe vor Nachrichten explodierte. Ich sah Fotos und Videos der Zerstörungen und konnte es erst gar nicht glauben, was da passierte. Zeitgleich bekam ich Nachrichten von Freunden bei Facebook, die sich über das dort verfügbare Tool in Sicherheit meldeten. Ich habe versucht, direkten Kontakt zu meinen Bekannten aufzunehmen, zum Beispiel die Patentante von einem meiner Söhne, die mitten im Krisengebiet wohnt. Auch mit der Pfarrerin vor Ort habe ich ziemlich bald gesprochen. Neben den Wasserschäden in der Kirche und dem Gemeindehaus ist sie auch privat betroffen, da ihr Mann ein Geschäft in der Altstadt betreibt.

Wann wurde Ihnen das Ausmaß der Katastrophe bewusst?
Spätestens, als ich von Freunden den Satz hörte: „Unsere Wohnung stand zwar komplett unter Wasser – aber immerhin leben wir noch.“ Drei Wochen später bin ich selbst das erste Mal runtergefahren und musste erstmal begreifen, was sich da abgespielt hatte. Im Prinzip ist alles, was sich rund um die Ahr im Tal befand eine Baustelle. Die Zerstörungen sind gigantisch.

Können Sie ein Erlebnis nennen, dass Sie stellvertretend für die ganze Katastrophe besonders geprägt hat?
Der Friedhof von Ahrweiler liegt direkt an der Ahr und eigentlich ist das eine sehr schöne und idyllische Lage. Vom Zentrum der Altstadt ist man in wenigen Minuten da, das war immer ein Friedhof, der seinen Namen auch verdient hat. Das Hochwasser hat auch hier gewütet, die Wassermassen haben einen Teil der massiven Brücke wie ein Pflug über das Gelände gedrückt, zwischen den Gräbern lagen auch nach drei Wochen noch Autowrackteile, kaputte Weinfässer und überall Müll und Schutt hoch aufgetürmt. Als ich da war, hat die Bundeswehr dort tagsüber aufgeräumt, abends war der Friedhof dann für Besucher geöffnet, ein Seelsorger war anwesend. Die Besucher haben versucht, die zerstörten Gräber zu finden und – sofern möglich – wieder herzurrichten, sie haben Kerzen angezündet und einen Ort der Ruhe gesucht. Mit einigen kam ich ins Gespräch. Mit vielen Bildern und bedrückenden Geschichten im Kopf machte ich mich auf den Rückweg zum Friedhofseingang. Auf dem Boden sah ich ein Bonbonpapier liegen. Ich hob es auf, wollte es wegwerfen und dachte dann: Wohin damit? Wo hier doch eigentlich alles voller Müll ist?

Wie ist die Situation der Menschen vor Ort?
Noch immer sehr dramatisch. Die Aufräumarbeiten sind nach wie vor in vollem Gange, überall dröhnt es von schweren Maschinen. Gleichzeitig sind den meisten Geschädigten beim Wiederaufbau die Hände gebunden. Ein Beispiel: Freunde von mir sind gut versichert und würden gerne so schnell wie möglich mit den Reparaturarbeiten ihres Hauses beginnen. Doch dafür muss erstmal die Versicherung die Freigabe erteilen. Und sie wissen momentan gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollen. Auch Handwerksbetriebe sind schwer zu engagieren, weil sie einfach so ausgelastet sind und zum Teil selbst immense Schäden erlitten haben.

Aus den Medien ist die Hochwasser-Katastrophe weitestgehend verschwunden ...
Und das ist sehr schade, weil das unmittelbaren Einfluss auf die Spenden- und Hilfsbereitschaft hat. Dabei wird noch immer jeder Euro und jede helfende Hand benötigt. Vor Ort sind die Hilfskräfte gut organisiert, man sollte sich aber unbedingt vorab erkundigen, wo und in welcher Form Unterstützung benötigt wird. Das geht auf Facebook ziemlich gut. Nicklas Franz koordiniert zum Beispiel helfende Hände aus Celle. Auch das Helfer-Shuttle in Grafschaft-Ringen ist eine gute Anlaufstelle. Als Pastorin denke ich natürlich auch an den seelsorgerlichen Aspekt. Viele Menschen haben alles verloren, jegliche Sicherheit, jegliches Fundament, trauern um Verwandte und Freunde. In den kommenden Jahren wird auch auf emotionaler Ebene noch sehr viel Hilfe benötigt werden.

 

Wenn Sie spenden möchten:

DE48 5776 1591 1010 0355 00 (Ev. Kirchengemeinde Bad Neuenahr)
Spendenzwecke: Flutopferhilfe ODER Wiederaufbau

DE78 3506 0190 1014 1550 38 (Diakonie RWL sowie Rheinische, westfälische und lippische Landeskirche)
Spendenzweck: Hochwasserhilfe

 

(Unser Foto zeigt den zerstörten Friedhof Ahrweiler, das Bild stammt von Elke Smidt-Kulla)