Pastor Michael Wohlgemuth wird verabschiedet
Wenn am Sonntag Pastor Michael Wohlgemuth in „seiner“ Bonifatiuskirche verabschiedet wird, dann endet damit eine Ära in Klein Hehlen. 39 Jahre lang hat der 1957 in Berlin-Spandau und in Göttingen aufgewachsene Wohlgemuth als Pastor gearbeitet. 20 Jahre davon in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Klein Hehlen. Was hat ihn in all den Jahrzehnten motiviert? Was ließ sich in all den Jahren in Klein Hehlen bewegen? Und welche Zukunft hat Kirche? Ein Interview zum Abschied.
Michael Wohlgemuth, welche Rolle spielte die Kirche in Ihrer Kindheit?
Für meine Eltern gehörte der Kirchgang am Sonntag dazu – für uns entsprechend der Kindergottesdienst. Der Glaube war nicht ständig Thema in unserer Familie, aber immer ein wichtiges Element. Auch im Alltag.
Warum wollten Sie Theologie studieren?
Ich konnte mir nie ernsthaft einen anderen Beruf für mich vorstellen. Das hat sicher auch mit familiärer Vorerfahrung zu tun: Einer meiner Großväter war Pastor, dazu drei meiner Onkel. Die hatte ich oft in ihrem Alltag als Pastor beobachten können. Meine Erinnerungen haben vor allem mit dem bunten Leben im Pfarrhaus zu tun. Mit dem Glauben als zentrales Grundelement, um Menschen zu begegnen bzw. ihnen in irgendeiner Weise nützlich zu sein. Die Vertrauensposition imponierte mir sehr.
Welche Rolle spielte dabei der Glaube?
Die spirituelle Perspektive auf das Leben und die Herausforderung, den Worten Jesu Einfluss auf den eigenen Weg zu geben, fand ich sehr spannend. Im Studium faszinierte mich dann die historisch-kritische Auslegung der Bibel immer mehr. Dieses Grundgefühl, in der Bibel immer etwas Neues zu entdecken, hält bis heute an.
Wie definieren Sie die Aufgaben einer Pastorin bzw. eines Pastors?
Mir persönlich hat es Freude gemacht, auf den verschiedenen Klaviaturen zu spielen, die sich durch die unterschiedlichen Menschen und meine Möglichkeiten ergaben. Mir war es ein Anliegen, damit möglichst viele Andockpunkte anzubieten, über die Menschen die Realität Gottes für sich spüren konnten.
Wie haben Sie diese Realität für sich erfahren?
Je nach Lebensphase und Situation sehr unterschiedlich. Alltäglich unspektakulär: Ein biblisches Wort gab mir etwas, ein Gebet entwickelte sich zu einem Weg, den ich von mir aus nicht gegangen wäre. Eine tragende Kraft habe ich durch die Gesänge in der ökumenischen Kommunität im französischen Taizé und in Taizé-Gottesdiensten entdeckt. Eine andere Erinnerung verbinde ich mit einer Studienreise nach Südafrika: Ich durfte im Rahmen eines sozialen Projekts einer dortigen Baptistengemeinde durch das nächtliche Johannisburg mitfahren, um Suppe auszuteilen und einfache medizinische Versorgung in abgelegene Ecken zu bringen. Irgendwann landeten wir auch unter einem Highway bei lauter Obdachlosen, die alle in großen Pappkartons hausten. Laut Reiseführer war es nicht ratsam, sich hier als Weißer aufzuhalten, aber ich fühlte mich unerklärlich sicher wie in Abrahams Schoß. Mit einer Suppe in der Hand ging ich auf einen schwarzen Mittvierziger zu. Wir stellten uns vor, er strahlte mich an. Mich, nicht die Suppe in meiner Hand. „Please pray for me“, sagte er. Also betete ich für ihn. „And bless me, please“ - ich segnete ihn, und wir verabschiedeten uns. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – noch nie habe ich das begriffen wie da.
Sie wurden 1984 in Walsrode ordiniert. Welche Erfahrungen sammelten Sie als Berufsanfänger?
Eigentlich hatte ich vom Anfang in einer kleinen Dorfgemeinde geträumt. Stattdessen war ich nun im vierstelligen Pfarramt für 11.000 Gemeindemitglieder gelandet. Ich war der Jüngste unter meinen Kolleg*innen, vom Nächstälteren trennten mich zehn Jahre. Rückblickend denke ich: Das war ein guter Anfang, um Teamfähigkeit zu lernen.
Wie würden Sie den fast 40 Jahre jüngeren Pastor Wohlgemuth heute beschreiben?
Einerseits glaubte er, in vieler Hinsicht zu wissen, was er wollte – andererseits hatte er großen Respekt vor dieser Aufgabe. Zum Glück schaute er sich auch erstmal in Ruhe um und versuchte, die Gegebenheiten und Menschen vor Ort besser zu verstehen. Vieles ergab sich – abgesehen von den pfarramtlichen Grundaufgaben – aus der eigenen Lebenssituation: Meine Frau und ich lernten schon im Vikariat ein Lehrerehepaar kennen, und darüber entwickelte sich ein Kreis jüngerer Erwachsener, die sich über ihre Lebenssituation und ihren Glauben austauschten und mit Kind und Kegel etwas unternahmen. Später, als wir selbst Kinder bekamen, gab das einen persönlichen Zugang dazu, Kinderbibelwochen zu initiieren. Ich habe manches auch erst mühsam gelernt: Der schon bestehende Gesprächskreis von teils sehr in ihrem Glauben verwurzelten Menschen holte mich aus akademischen Höhenflügen wieder zurück auf die Erde und machte mir klar: Sie brauchten keine Uni-Vorlesungen, sondern etwas Handfestes für ihren Glauben.
Wie ging es für Sie nach Walsrode weiter?
Nach zwölf Jahren ergab sich für mich ganz ungeplant der Wechsel ans Predigerseminar im Kloster Loccum. Und damit eine reizvolle Verbindung von Tätigkeit in der Pastoren-Ausbildung und gleichzeitig praktische Arbeit in den Gemeinden des Loccumer Stiftsbezirks. Acht Jahre genossen unsere drei Kinder dort ein wahres „Bullerbü“. 2003 endete die Zeit dort, und Klein Hehlen bot sich an. Pastor war mein eigentliches Berufsziel gewesen und sollte es nun auch wieder sein.
Wieder eine neue Umgebung, auf die Sie sich einstellen mussten.
„Start zusammen“ – unter diesem Label fanden sich zehn, zwölf Klein Hehlener, die sich einmal im Monat mit mir als neuem Pastor zum Austausch trafen. Ich durfte sie fragen, sie spiegelten mir ihre Eindrücke zurück, gemeinsam versuchten wir eine geistliche Perspektive für die Arbeit als Gemeinde zu gewinnen. Über unseren jüngsten Sohn entstand die Tradition der alljährlichen, viertägigen Väter-Kinder-Tour mit Fahrrad und Zelt von Christi Himmelfahrt bis zum folgenden Sonntag. Ergänzend zu den Seniorenkreisen hoben wir die Aktion „55plus“ aus der Taufe: Ein Angebot pro Monat für ein möglichst breites Spektrum von Interessen. Oder die Gemeindereisen, zum Beispiel auf den Spuren von Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer. Dazu die Pilgertouren auf dem Pilgerweg Loccum-Volkenroda. Das Miteinander, das da wuchs, gehört zu meinen schönsten Erfahrungen.
Welche gemeinschaftlichen Aktionen und Projekte kommen Ihnen noch in den Sinn?
Das Männerfrühstück zum Beispiel, zweimal im Jahr zu einem – oft sozialethischen - Thema aus christlicher Perspektive. Oder auch der alljährliche Sommer-Meditationskurs, für den ich 2004 meine persönliche Meditationsroutine öffnete und dazu von 6:30 bis 7 Uhr einlud. Ich war mir völlig unsicher, ob darauf irgendjemand anspringen würde, aber es kamen zwölf Personen. Den Kurs gab es dann 19 Jahre lang.
Welche Rolle hat die Seelsorge in Ihrer täglichen Arbeit gespielt?
Die war und ist mir von Anfang an Herzstück der Arbeit, deshalb habe ich dafür eine dreijährige Fortbildung mitgemacht. Donnerstagvormittags war mein fester Tag für Besuche im Krankenhaus. Auch eine besondere Art, seine Gemeinde kennenzulernen. Dazu immer zwei, drei Reihen von seelsorgerlichen Einzelgesprächen. Besonders erfüllt hat es mich zu erleben, dass das Seelsorgerliche auch im Gottesdienst Platz hatte: Wenn im Taizé-Gottesdienst nicht nur Erwachsene, sondern auch 13-jährige Konfirmand*innen kamen, um sich einen Segen zusprechen zu lassen. Ohne sich vor den anderen zu schämen. Oder das Angebot der persönlichen Segnung und Salbung für Kranke und anders Belastete, alle sechs Wochen nach dem Gottesdienst am Sonntag.
Wie gehen Sie damit um, dass die Kirche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung und Reichweite verloren hat?
Mit der 68er-Bewegung hat in der westlichen Kultur ein massiver Umbruch eingesetzt, dessen Spätwirkung wir heute in seiner ganzen Wucht spüren. Die Ent-Traditionalisierung, die Emanzipation von der eigenen Herkunftsidentität. Das ist eine alle Bereiche erfassende gesellschaftliche Entwicklung. Es wäre vermessen zu glauben, dass man das mit guter Gemeindearbeit ausgleichen könnte. Und bei aller Mängelhaftigkeit auch in der Kirche lässt sich kaum der eine entscheidende Fehler benennen, der das erklärt. So wenig wie bei Vereinen, Gewerkschaften oder Parteien, die ebenfalls unter Mitgliederschwund leiden. Aber speziell, was die Weitergabe des Glaubens angeht, erleben wir einen massiven Abbruch, der mich persönlich traurig stimmt. Auch das Wegdriften bislang treuer Gemeindeglieder seit der Corona-Abstinenz: Das tut mir als Christ und Pastor weh. Die Kirche scheint in einer Karsamstags-Situation zu stehen: Ostern und der Aufschwung des Lebens lassen sich gerade nicht herbeizwingen. Heißt für mich: Die eigenen Glaubensquellen offenhalten und so gut es geht ausstrahlen, was mich selbst froh macht!
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?
Im Vordergrund kann nicht die Frage nach kirchlicher Selbsterhaltung stehen. Vielmehr kann sich auch Nichtchristen die Frage stellen, was aus der Gesellschaft und den Menschen wird, wenn der christliche Glaube keine institutionelle Form der Weitergabe und gemeinsamen Praxis mehr hat. Was wird aus einer Gesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist? In der es keine Perspektive mehr dafür gibt, welchen Wert das Leben eines Demenzkranken hat? Christliche Werte lassen sich nicht wie Gartenzwerge beliebig in den Vorgarten stellen; sie sind so lebendig und einflussreich, wie Menschen sie im Glauben als Realität erfahren.
Sie haben zu Beginn vom bunten Treiben in den Pfarrhäusern Ihrer Onkel erzählt. Wie sah es im Pfarrhause Wohlgemuth aus?
Wie in einem echten Familienbetrieb. Meine Frau ließ ihren Beruf als Physiotherapeutin mit der Geburt unserer Kinder ruhen und brachte sich in der Rolle der klassischen Pfarrfrau mit Lust und Liebe ein. Über die Jahre waren es unterschiedliche Aufgaben: vom wöchentlichen Seniorenkreis in Walsrode, bis hin zur Kinderkirchen-Arbeit, immer wieder seelsorgerlich für Menschen Zeit zu haben. Es war toll, mitzuerleben, wie unsere Kinder von sich aus in diesen Familienbetrieb hineinwuchsen, wie sie als Teamer*innen oder Musiker*innen im Gemeindeleben eingebunden waren. Eins mehr, eins weniger. Aber die Gemeinde war irgendwie immer auch gemeinsames Biotop für uns.
Nun gehen Sie in Ruhestand. Wie schafft man es, sich von den langjährigen Aufgaben zu lösen?
Am besten, in dem man nicht nur den eigenen Abgang, sondern auch den Übergang für die Zeit danach zu gestalten versucht. Abschiednehmen gehört zum Leben dazu, und bisher haben wir immer erleben können: Es tut sich Neues auf! Dadurch, dass wir in Klein Hehlen wohnen bleiben, ist es dann auch wieder ein begrenzter Abschied: Meine Frau und ich werden weiterhin im Chor singen, natürlich werde ich die Gottesdienste besuchen und den Gemeindebrief trage ich in zwei Straßen auch noch weiter aus. Man sieht sich, wenn auch in neuer Rolle.
Welche Wünsche haben Sie für die Zeit danach?
Mit dem 1. Mai beginnt offiziell der Ruhestand. Ein halbes Jahr würde ich gerne eine Generalpause machen, um das Gefühl zu verinnerlichen, was das jetzt eigentlich heißt. Ich freue mich darauf, nicht dauernd Pläne zu entwerfen oder neue Ideen zu entwickeln, sondern einfach mal in den Tag hineinzuleben und mich davon inspirieren zu lassen. Ich würde gerne noch mehr Musik machen, mehr Fahrrad fahren, mehr Zeit für die Enkel haben, Freundschaften intensiver pflegen und mich endlich theologischen Büchern widmen, für die ich bislang keine Zeit hatte. Ja, natürlich auch: Mich nützlich machen – aber vielleicht dann auch mal ganz anders als bisher.
Das klingt nach schönen, aber auch sehr bescheidenen Plänen.
Wer glaubt, im Ruhestand viel nachholen zu müssen, der hat vorher vergessen zu leben. Das habe ich definitiv nich!