„Hier bitte gut festhalten“, warnt Ralf Pfeiffer und klopft gegen eine hölzerne Leiter, die so aussieht, als wäre sie noch von Ernst dem Bekenner aufgestellt worden. Damit sich der Besucher noch etwas sicherer fühlt, ergänzt Pfeiffer: „Wenn man allein hier oben ist und von der Leiter fällt, hört einen niemand.“ Nervöses Husten beim Leitergang. Oder ist es der feine Holzstaub aus jahrhundertealten Balken, die den Dachstuhl der Stadtkirche St. Marien zusammenhalten? Ein Blick in das freundliche Gesicht von Ralf Pfeiffer beruhigt das Gemüt. Der Mann kennt sich hier nicht nur aus, das hier ist sein zweites Wohnzimmer. Die Leiter hält, der historische Rundgang kann fortgesetzt werden.
Ende einer Ära
Am kommenden Sonntag endet im Celler Wahrzeichen eine Ära. Seit 1995 war Pfeiffer als Stadtkirchenküster im Amt, im 10-Uhr-Gottesdienst wird er feierlich verabschiedet. Wehmut in den Augen des scheidenden Küsters. Die 28 Jahre im Amt waren nicht einfach nur ein Job für Pfeiffer, sie waren ein entscheidender Teil seines Lebens. Nicht nur, weil sein Glaube so fest verankert ist wie die Schrauben im Dachstuhl. Nicht nur, weil bereits sein Vater als Küster arbeitete. „Sondern weil ich diesen Beruf mit Liebe ausgeübt habe“, sagt er selbst.
Das spürt man schon, wenn man ihn dabei beobachtet, wie er die Türen zur Stadtkirche öffnet und altbekannte Besucher*innen begrüßt. Oder wenn er mit leuchtenden Augen von der aufwendigen Restauration der Orgel berichtet. Oder eben in den verwinkelten Ecken des riesigen Kirchengebäudes eine uralte Leiter festhält. Fast drei Jahrzehnte lang war es auch sein Gesicht, dass die Cellerinnen und Celler mit der Stadtkirche verbanden. Unzählige Führungen hat er hier angeboten und begleitet. Gottesdienste, Veranstaltungen und Konzerte vorbereitet und geplant. Verirrte Tauben gejagt und verliebte Paare bei der Trauung unterstützt. Vor allem aber: mitgeholfen, in einer Gemeinde für Gemeinschaft zu sorgen. Ob nun als unsichtbarer Strippenzieher hinter den Kulissen, im direkten Austausch zwischen den hölzernen Sitzbänken oder beim Kirchcafé an der Stechbahn. „Ich habe viele Menschen kennen und schätzen gelernt, mit vielen zusammengearbeitet“, hat er dem Gemeindebrief „Kontakte“ in seinem Abschiedsinterview erzählt. „Viele habe ich ins Herz geschlossen.“
Nicht nur Handwerker im Auftrag der Kirche
Aufeinander zugehen. Miteinander reden. Ein offenes Ohr haben. Füreinander da sein. „Das habe ich in den Jahren auch versucht zu leben“, sagt Pfeiffer und man braucht sich nur fünf Minuten mit diesem Mann beschäftigen, um ihm das sofort abzunehmen. Der gelernte Dachdecker hat sich nicht nur als Handwerker im Auftrag der Kirche gesehen. Eher als Repräsentant im Hintergrund. Für die Gemeinde, aber auch für die Erhaltung der Celler Stadtgeschichte. Leidenschaftlich erinnert er an den Einbau der Friedensglocke im Kirchturm, von Restaurationen und Umbaumaßnahmen, von der Zusammenarbeit mit Künstlern und Orgelbauern. „Wissbegierig, fröhlich, aber auch nachdenklich und traurig“ – so hat er die Menschen beschrieben, die er in den vergangenen 28 Jahren in der Stadtkirche beobachtete, begrüßte, begleitete. Attribute, die auch auf ihn zutreffen und die unterschiedlichsten Emotionen, mit denen er seine Arbeit als Küster ausgeführt hat.
Besonders in Erinnerung geblieben sind ihm die Tage im Juni 1998, als er als Feuerwehrmann das Zugunglück von Eschede aus nächster Nähe erleben musste. „Als ich die Zeit dafür fand, setzte ich mich in Stadtkirche und fing an zu weinen“, erinnert sich Pfeiffer. „Da legte jemand eine Hand auf meine Schulter, es war der damalige Pastor. Er sagte mir: ‚Jetzt sind wir für sie da‘. Das habe ich damals als unglaublichen Trost empfunden.“
28 Jahre als Stadtkirchenküster. Über seine Zeit im Herzen der Celler Altstadt hat Ralf Pfeiffer zuletzt sehr viel nachdenken müssen. Sich zu lösen von einem Beruf, der viel mehr eine Berufung war, wird ihm vermutlich schwerer fallen, als er sich das zunächst selbst ausmalte. Nach seiner Verabschiedung aus dem Dienst wird er eine Pause einlegen, „um zu erspüren, was ich noch erleben möchte“, wie er sagt. Ganz sicher wird die Stadtkirche sein zweites Wohnzimmer bleiben. Aktuell ist er dabei, seinen Nachfolger im Amt einzuarbeiten. „Schon erstaunlich“, sagt er, „wie viel Arbeit das doch eigentlich ist. Vieles davon wird mir erst jetzt bewusst.“
Das kann natürlich nur einer sagen, für den der Job viel mehr war als bloß die reine Arbeit.