Ohne ein Dach über dem Kopf, werden die aktuellen Temperaturen zur Lebensgefahr. In der Bahnhofsmission Celle finden Wohnungs- und Obdachlose eine erste Anlaufstelle.
Andrzej zittert. Die Tasse mit heißem Kaffee, die ihm Ulla Heine von der Bahnhofsmission Celle gerade auf den Tisch gestellt hat, muss er mit beiden Händen festhalten, damit die Flüssigkeit nicht überschwappt. Seine weiße Jacke ist schmutzig. Er trägt drei Hosen übereinander. Im Gesicht und am Hals hat er zahlreiche Kratzer und Wunden. Sein Blick ist unruhig, die Verzweiflung ist ihm deutlich anzumerken. Die Kälte sowieso. Die letzten Nächte hat der 37-Jährige erst auf einem Dachboden, dann im Keller verbracht.
Kaum sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, ändern sich die Prioriäten in unserer Gesellschaft. Wie schön ist es dann, ein warmes Zuhause zu haben. Ein Dach über dem Kopf, eine funktionierende Heizung, ein eigenes Bett, eine warme Dusche. Und wie unerträglich ist die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die diesen Luxus nicht besitzen. Wer bei Minusgraden übernachten muss, begibt sich in Lebensgefahr. Jeden Winter sterben in Deutschland Menschen, die ohne Wohnung oder ohne Obdacht sind. Eine Gefahr, die durchaus auch in Celle existent ist. Auch wenn Wohnungs- oder Obdachlose nicht so sichtbar sind wie in anderen Städten. Zum Beispiel in Hannover, wo in der Nacht auf Donnerstag ein wohnungsloser Rollstuhlfahrer an den Folgen der Kälte gestorben sein soll.
„Aktuell circa 150 wohnungslose Menschen"
Julia Dittel kennt sich aus mit der Thematik. Nicht nur als Mitarbeiterin der Bahnhofsmission, sondern auch als Mitglied des Runden Tisches „Obdach- und Wohnungslosigkeit“, an dem Vertreter*innen unterschiedlichster sozialer Einrichtungen und Institutionen sitzen. „Aktuell haben wir in Celle circa 150 Wohnungslose, darunter einige Menschen, die ohne Obdacht sind“, sagt sie. Die meisten von ihnen seien in der Öffentlichkeit so gut wie unsichtbar – wie kann man einem Menschen auch ansehen, dass er nur ein Sofa oder Gästebett zum Schlafen hat? Die Bahnhofsmission, sagt Dittel, sei für alle Besucherinnen und Besucher eine erste Anlaufstelle. Die Möglichkeit, sich aufzuwärmen, etwas zu Essen und zu Trinken zu bekommen oder sich auszutauschen. Bei Bedarf können Hilfesuchende an entsprechende Stellen wie die Ambulante Hilfe für Wohnungslose, den Kalandhof oder die Notunterkunft in Scheuen weitervermittelt werden.
Härtefälle wie der von Andrzej sind im Celler Bahnhof selten, aber sie kommen vor. Das Deutsch des gebürtigen Polen ist nur schlecht zu verstehen, aber Michael Wohlgemuth hört trotzdem aufmerksam zu. Der ehemalige Pastor der Klein Hehlener Bonifatiusgemeinde ist regelmäßig in der Bahnhofsmission tätig. Sein Gegenüber berichtet davon, wie ihn die psychisch erkrankte Partnerin aus der gemeinsamen Wohnung geworfen habe – „ohne Laptop, ohne Handy, ohne Geld“, nur einen großen Koffer hat er bei sich. Bekannte der Ex-Partnerin hätten ihn gewaltsam daran gehindert, wieder in die Wohnung zu kommen, daher die Wunden. Sieben Tage hat er in ungeheizten Räumen geschlafen, eine Tortur für Körper und Seele. Jetzt will er nach Hannover, um bei seinen Eltern unterzukommen. Warum er das nicht schon früher versucht hat, kann Andrzej nicht beantworten.
„Werde ich den nächsten Tag überleben? Und denkt dann noch einer an mich?“
Nicht jedes Einzelschicksal ist im Detail zu verstehen, dafür ist das Leben, sind die verschiedenen Biografien und die dazugehörigen Brüche einfach zu komplex. Wie bei Sam, der seinen eigentlichen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er ist 31 Jahre alt, lebte mit seinem Vater zusammen und fand nach dessen Tod keine neue Bleibe. Elf Monate lang war er in der Obdachlosenunterkunft in Scheuen, mehrfach schlief er auf der Straße, unter Brücken oder in Hauseingängen. „Ohne Arbeit ist es fast unmöglich einen Mietvertrag zu bekommen“, sagt er. Seit November hat er eine Wohnung in Wietzenbruch, ein Schritt nach vorne. Wie fühlt es sich an, wenn man obdachlos ist? Wenn man nicht nur den Witterungsbedingungen, sondern auch potenzieller Gewalt schutzlos ausgefliefert ist. Sam überlegt. „Man fragt sich: werde ich den nächsten Tag noch erleben? Und: denkt dann überhaupt noch einer an mich?“ Er wünsche jedem ein gutes Leben, mit regelmäßigem Einkommen, Familie, Freunden, Schutz vor Kälte und Hitze. Aber manchmal sei der Grad zwischen dieser Existenz und jener zwischen Notunterkunft und Straße „nur so schmal“ – Sam zeigt auf einen der Pfeiler im Gemeinschaftsraum der Bahnhofsmission.
83 Gäste hatte die Bahnhofsmission im Dezember im Durchschnitt pro Tag. Ab diesem Mittwoch im Januar sind es deutlich weniger. Der Streik der Lokführergewerkschaft macht sich bemerkbar. Manon und Peter sind Stammgäste. Mit Wohnungs- oder Obdachlosigkeit haben sie nicht zu kämpfen, dafür mit ein paar anderen Sorgen, die das Leben so mit sich bringen kann. Sie kommen zum Bahnhof, um gemeinsam Kaffee zu trinken, ein wenig Gesellschaft zu haben. Man kennt sich und das ist ein schönes Gefühl. Manchmal braucht es nicht viel mehr als das. Währenddessen kümmert sich Julia Dittel um den nächsten Notfall, diesmal per Telefon. Ein anderer Stammgast, auch er lange ohne festen Wohnsitz, ist nach München gereist, um dort in einem Wohnprojekt für Obdachlose den Neustart zu wagen. Die örtliche Bahnhofsmission sollte eigentlich vermitteln, scheint jedoch geschlossen zu haben. Ein paar Anrufe von Julia Dittel und das Problem ist gelöst. Schon wieder eine geöffnete Tür mehr, eine neue Chance. Weg von der Straße, raus aus der Kälte. In diesem Moment verabschiedet sich Andrzej zum Bahnsteig. Immerhin: das Zittern hat aufgehört.