„Wir müssen uns auf unsere Kernkompetenz besinnen“

Nachricht 29. Oktober 2021

Interview mit Pater Thomas Marx und Superintendentin Dr. Andrea Burgk-Lempart

Die Zusammenarbeit zwischen den christlichen Konfessionen hat auch in Celle eine besondere Bedeutung. Wenn am kommenden Sonntag der Reformationstag gefeiert wird, leben Dr. Andrea Burgk-Lempart, die Superintendentin des Ev.-luth. Kirchenkreises, und Pater Thomas Marx von der katholischen Gemeinde, diesen Dialog vor: Während die Superintendentin beim 18-Uhr-Gottesdienst in der Stadtkirche die Liturgie übernehmen wird, hält Pater Thomas die Predigt. Im gemeinsamen Interview sprechen die beiden über die ökumenische Zusammenarbeit, die gegenwärtigen Herausforderungen für die Kirchen und was sich in Zukunft ändern muss.

 

Andrea Burgk-Lempart, Pater Thomas Marx – wie definieren Sie den Begriff „Ökumene“?

Pater Thomas Marx: Deutschland hatte vor dem 2. Weltkrieg konfessionell klar geprägte Gebiete. Erst durch die Durchmischung der Bevölkerung in Folge des Krieges gab es überhaupt so etwas wie ein Aufbrechen dieser konfessionellen Monokulturen. Und damit – notwendigerweise – auch die Auseinandersetzung mit der anderen Konfession. Vorher galt es vor allem, sich abzugrenzen, um bloß nicht die eigene Konstruktion der Wahrheit in Frage zu stellen. Erst jetzt erwuchs so langsam eine Bewegung, die das Miteinander suchte und eher danach schaute, was uns Christen eigentlich verbindet.

Superintendentin Andrea Burgk-Lempart: Vieles, was die Ökumene betrifft, ist an der Basis passiert. Was früher nahezu undenkbar war, ist heute nicht mehr der Rede wert: Dass zum Beispiel Menschen unterschiedlicher Konfessionen heiraten und dadurch ein natürliches Interesse an einem konfessionellen Miteinander besteht. Ich selbst komme zum Beispiel aus einer gemischt-konfessionellen Familie. Mutter katholisch, Vater evangelisch. Für meine Großmutter mütterlicherseits war es eine große Sache, das erste Mal in eine evangelische Kirche zu gehen.

Kann diese Entwicklung hin zu einem toleranten Miteinander nicht auch eine Vorbildfunktion einnehmen in unserer zum Teil sehr gespaltenen Gesellschaft?

Burgk-Lempart: Vorbildfunktion insofern, Verschiedenheiten auszuhalten. Sich nicht an die eine eigene Wahrheit zu klammern, sondern zu akzeptieren, dass es verschiedene Wege zum Heil gibt. Und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Mit Blick auf die Ökumene: die eine Taufe, das eine Bekenntnis – bis auf das eine Wort – das eine Vaterunser, den einen Herrn, dieselbe Bibel, das Reden von der Gnade Gottes. Katholische und evangelische Kirche haben bei aller Unterschiedlichkeit ein und denselben Auftrag.

Marx: Ich glaube, wir können uns gar nicht mehr leisten, nicht mit einer Stimme zu sprechen. Um als Kirche in der heutigen Gesellschaft überhaupt Gehör zu finden, braucht es dieses Miteinander.

Mit Blick auf Celle: Wie wird Ökumene hier bei uns gestaltet und gelebt?

Marx: Das fällt mir als Erstes der ökumenische Arbeitskreis ein, der gemeinsame Veranstaltungen plant und organisiert oder sich in Gesprächsabenden mit der Frage auseinandersetzt, was eigentlich religiöses Leben bedeutet.

Burgk-Lempart: Im AKH gibt es zum Beispiel eine katholische Seelsorgerin und einen evangelischen Seelsorger, die sich gegenseitig vertreten und gut zusammenarbeiten. Auch die Bahnhofsmission ist eine ökumenische Einrichtung. Gerade im karikativ-praktischen Bereich spielt die Konfessionszugehörigkeit keine Rolle mehr.

Wie würden Sie die vorrangige Aufgabe der Kirche beschreiben?

Burgk-Lempart: Für die Menschen da sein. Das Evangelium verkünden – im Reden und im Handeln. Sich nicht um sich selbst drehen, sondern rausgehen, vor Ort sein. Und allen Menschen menschlich begegnen. Nicht umsonst ist Gott auf die Idee gekommen, an Weihnachten Mensch zu werden.

Marx: Kirche ist nicht zum Selbstzweck da, das ist ganz entscheidend. Es geht nicht darum, was man tun könnte, damit morgen wieder die Kirchenbänke voll sind. Es gibt dazu einen schönen Spruch von Papst Franziskus, der gesagt hat: „Christus steht an der Kirchentür und klopft. Aber nicht, weil er in die Kirche rein, sondern weil er raus will.“

Wie lässt sich das, über was Sie bislang gesprochen haben, mit dem Reformationstag in Verbindung bringen?

Marx: Reformation hat eine ganz aktuelle Dimension. Beide Kirchen stehen vor einer riesigen Herausforderung: Uns laufen massenweise die Leute weg. Nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ist konfessionell gebunden. Die Frage, die sich für mich daraus ergibt, lautet: Haben wir eine Vision davon, wie Kirche eigentlich in Zukunft aussehen kann? Das gelingt meiner Meinung nach nicht, wenn man nur nach Rezepten sucht, um die alte Form von Kirche wiederherzustellen.

Sondern wie?

Burgk-Lempart: In dem wir uns zum Beispiel auf eine unserer Kernkompetenzen besinnen: Den jeweiligen Menschen so zu nehmen und so zu sehen, wie er ist. Völlig ohne Wertung, ohne Likes, ohne Noten. Ihn in seiner Einzigartigkeit zu begreifen, ganz egal, ob er sich in einer Notlage befindet, oder nicht. Ihm Beziehung anzubieten und ihn die heilsame Gegenwart Gottes gewahr werden zu lassen. Das alles völlig zweckfrei, ohne eine Gegenleistung für dieses Handeln zu erwarten.

Marx: Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kirche der Zukunft anders sein wird. Es wird auch in 100 Jahren noch genug Cellerinnen und Celler geben, die Gottesdienste besuchen. Aber diese flächendeckende Volkskirche wird es in dieser Form irgendwann nicht mehr geben.

Burgk-Lempart: Bei allem Reformbemühungen müssen wir uns die Frage stellen: Was brauchen die Menschen? Wie können wir ihnen – abseits vom Mainstream – helfen, sie unterstützen? Die Botschaft des Evangeliums in ihren Alltag einsprechen. Soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit, darum geht es meiner Meinung nach heute mehr denn je. Und die Kirchen spielen dabei eine wichtige Rolle. Umso entscheidender ist es, die Kräfte aus beiden Konfessionen zu bündeln. Gemeinsam sind wir stark, auch dafür steht für mich die ökumenische Bewegung.