Die Predigt von Regionalbischof Dr. Stephan Schaede in der Celler Stadtkirche im Wortlaut

Nachricht Celle, 24. Februar 2022

Lebendig und energiegeladen und schnittiger als jedes zweischneidige Schwert ist das Wort Gottes. Es dringt zwischen Seele und Geist, Gelenken und Mark hindurch und urteilt über die Gemütsregungen und Gedanken des Herzens. Kein Geschöpf ist vor Gott verborgen. Alle liegen nackt und vor Gottes Augen aufgedeckt da.  Auf Gott hin ist unser Wort ausgerichtet.

„Noch bist Du da …“, wie ein Weckruf wirkt dieser Titel eines Gedichtes von Rose Ausländer auf mich, ein Weckruf, ein drängender Impuls, das eigene Leben intensiv wahrzunehmen, die eigene Lebenszeit auszukosten und Todesangst zu überwinden.  „Noch bist Du da“. Dieser Weckruf hat einem Bildzyklus von Uwe Appold seinen Namen gegeben. Mit den zwanzig Bildern dieses Bildzyklus‘ ist Uwe Appold in den Austausch mit zwanzig Gedichten gegangen, hat diese Gedichte seine ganz eigene Farbe der Todesüberwindung verliehen. Vorhin durfte ich sie gemeinsam mit dem Künstler und seiner Frau betrachten: zwanzig Variationen auf schillerndem schwarzen Grund. Nicht nur der Dialog zwischen Gedicht und den fertigen Bildern in der Ausstellung hier in St. Marien hat mich gepackt. Schon die Entstehung des Bilderzyklus hat mich fasziniert –ganz besonders jener Moment, als Uwe Appold die Leinwände aus seinem Atelier in die weiße Herbstsonne gezogen hat und über die Wirkungen und Veränderungen der schwarzen Oberflächen staunte.  Je nach Einstrahlungswinkel der Sonne habe der eingearbeitete Quarzsand  durch die dunkle Abtönfarbe hindurch gefunkelt. Uwe Appold fühlte sich an einen Carro funebre erinnert, den er in Italien verwundert auf seinem Weg zum Friedhof erleben durfte, gezogen von zwei schwarzen Hengsten, die schwarze Federbüschel auf dem Kopf trugen.  Auf diese schwarzfunkelnde Oberfläche hat Uwe Appold dem jeweiligen Gedicht Leitworte abgehört und zu diesen Leitworten markante Farbakzente gesetzt. So entstand ein vielfarbiges Antrotzen und Herauswinden aus dem Schwarz.  Uwe Appold – ein Künstler, Bildwortsucher und ihr Gestalter, Mitgestalter der Welt, durch etwas ganz Eigenes – eine eigene Perspektive auf diese Welt durch seine Kunst.

Auch die Verfasserin des Hebräerbriefes, sie war, wie der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack herausarbeitete, eine Frau, war auf der Suche nach Leitworten der Todesüberwindung. So schrieb sie in ihrem Brief ein Gedicht, gerade einmal vier Zeilen lang und gegen den Tod und alle Todesmüdigkeit angeschrieben.  Für mich birgt auch  dieses Gedicht Leitworte, die als Wortbilder den Bildworten Uwe Appolds korrespondieren. Gleich die drei ersten Leitworte: Lebendig ¬– energiegeladen – schnittig  führen mich beim Nachdenken über die Frage der Todesüberwindung ins Zentrum der Ausstellung. „Noch bist Du da …“ –  Jedoch frage ich mich für drei Lebensfelder: Bin ich, um ein erstes Lebensfeld zu nennen, als einzelner Menschen, als Individuumk so da, wie der Hebräerbrief einprägt: Lebendig – energiegeladen -schnittig?  Für ein zweites Lebensfeld betrachtet: Ist die Stadt Celle so da? Und schließlich für ein drittes Lebensfeld gefragt: ist die Kirche so da? Lebendig – energiegeladen – schnittig?

Klar, da sind wir immerhin. Noch sind wir da. Wir, die wir hier heute morgen zusammengekommen sind, sind noch da. Die Kirche ist noch da. Die Stadt Celle ist noch da.

Allerdings unendlich viel Zeit bleibt uns allen nicht.  Rose Ausländer erinnert drängend. „Bald ist deine Zeit um …“

Wie eigentlich also sind wir als Individuen noch da? Gestern ging Uwe Appold der Lebensbiographie von Workshopteilnehmerinnen nach: „Erzähl mir deine Geschichte“ lautete die Aufgabe.  Wie war das da? Paarweise hat die eine erzählt. Das Gegenüber hat gemalt, was es gehört hat, mit mehreren Generationen an der Staffelei. Eine Übung ganz im Sinne der von Rose Ausländer empfohlenen Kunst, „Worte zu verschenken“. Gab es da ein Echo auf die letzten Zeilen des Titelgedichtes der Ausstellung: „Sei was du bist“ „ Gib was du hast“? Ging da Lebensballast über auf die Leinwand, gelang es, im Sinne von Rose Ausländer die eigene „Angst in die Luft“ zu werfen, indem diese Angst vom Gegenüber auf die Leinwand geworfen wurde? Was trat da hervor lebendig – energiegeladen – schnittig? Auch Übles kann schnittig daherkommen.  „Verschenke Worte“ rät Rose Ausländer. Worte verschenken  … das geht auch in Gestalt vergifteter Komplimente. Verschenkt werden kann auch ein verlogenes Wort der Selbstrechtfertigung. Die Lüge zieht als verschenktes Wort in den eigenen vier Wänden umher, und versinkt als Alptraum im Nachtschlaf. „Noch bist Du da“ -  Dein Dasein, eine zweischneidige Angelegenheit am Ende?!

Und wie ist das, um das zweite Lebensfeld in den Blick zu nehmen, in der Stadt Celle: Celle – lebendig- energiegeladen – schnittig?

Ach, Celle, bezauberndes Fachwerk 400fach, schöne Symmetrien, ein Barocktheater, ein aus Spenden von Bürgerinnen und Bürger hervorgegangenes Museum, dass sich sehen lassen kann, das bedeutendste Gericht in Niedersachsen, eine Justizvollzugsanstalt mit einem beinahe malerisch wirkenden historischen Gebäudebestand, schnittig die Hengstparade, Celle – vitales Tor zur Lüneburger Heide. In der Reformation gleich nach Wittenberg  an der Spitze der Reformbewegung, einst gastfreundlich gegenüber Hugenotten, 2017 mit dem Titel Reformationsstadt Europas ausgezeichnet. Aber ist die Fußgängerzone am Samstagnachmittag energiegeladen? Ach, Celle in einem Jahr weit über 3000 Fälle häuslicher Gewalt, weit über 200 Fälle strafrechtlich dingfest gemachter sexueller Übergriffe. Rauschgiftdelikte nehmen zu. Es wird mehr geraubt, … Querdenker belagern die Innenstadt. Ein Demonstrant schlägt einen Polizeibeamten ins Gesicht.  „Sei was du bist, gib was du hast“? Welches Bild wäre wohl von Celle zu malen, welche funkelnden Quarzanteile würden durch die dunkle Abtönfarbe hindurchglitzern, Celle städtischer Carro Funebre am Rande der Südheide?

Die Kirche aber liebe Gemeinde, um schließlich das dritte Lebensfeld aufzurufen, ist bisweilen so noch da, dass mir in kirchenleitender Verantwortung ganz anders wird. In diesen Wochen geht es einmal mehr durch die Zeitungen. Vor allem einige Pfarrer haben erbärmlich versagt und so das Vertrauen in die Arbeit der übergroßen Mehrheit, die sich ehrenamtlich und hauptamtlich wirklich großartig für ihre Kirche engagiert, in verantwortungsloser Weise gefährdet. Erst vorgestern wurde ein weiterer sogenannter Altfall publik gemacht. Ort des Geschehens seinerzeit Hermannsburg. In der hohen Meinung, sein betörendes Charisma, mit dem er so lebendig, energiegeladen und schnittig Menschen und junge und jüngste Männer für den christlichen Glauben gewann,  gebe ihm die Freiheit für sexuelle Übergriffe an Schutzbefohlenen oder seelsorgerlich Abhängige, fehlte dem Leiter der Volksmission jede heilige Scheu. Geistliche in unserer Kirche haben sich mit dem Gestus der Menschlichkeit, die auf Gottes Vergebung angewiesen sei, als laszive messianische Gestalten aufgespielt, denen aufgrund ihrer suggestiven geistlichen Macht Menschen verfielen.  Und was zu Tage trat, wurde, wenn nicht totgeschwiegen, so durch manche kirchenleitende Handsteuerung nicht angemessen nach außen und innen aufgearbeitet.  Gut, dass das jetzt endlich professionell geschieht. Aber von wegen: lebendig – energiegeladen – schnittig.  Unsere Kirche reagierte träge, zögerlich  und war auf unheimliche Weise barmherziger mit den Tätern als mit den Betroffenen. Unsere Scham, unser Schuldbekenntnis kommt wahrlich nicht zur rechten Zeit, es kommt entsetzlich spät. Welches Bild mit schwarzem Grund wäre wohl da zu malen von einer Kirche, die einen Teil ihrer Unart schleunigst zu Grabe tragen sollte: Kirche hier im Norden  - Gottes Carro Funebre?

Nun hat das Gedicht aus dem Hebräerbrief gar nicht uns, es hat Gott im Sinn. Gottes Wort, so dichtet die Briefschreiberin, sei lebendig, energiegeladen und schnittiger als ein zweischneidiges Schwert.  Analytisch messerscharf dringe es in die Lebenskonstellationen dieser Welt ein,  durchdringe Mark und Bein, Seele und Geist, durchschaue bis in die heimlichsten Gemüts- und Gedankenregungen des Lebens das Herz der Menschen.  Es gibt da kein Entkommen, kein Verbergen: Gott konfrontiert seine energiegeladene Lebendigkeit mit dem, was in Deinem Leben der Fall ist.

Wie töricht muss eine Kirche sein, deren erstes Ziel es ist, vor der Welt mit womöglich verschwiegenen Abgründen noch einmal davon zu kommen. Ist der Kirche denn nicht deutlich genug gesagt, dass sie als allererstes Gott selbst Rede und Antwort stehen muss. Wenn sie das verdrängt, um sich selbst zu retten, dann wird sie mit ihren  „Zukunftsträumen“,  mit Rose Ausländer gesprochen,  wohl „unter dem Gras“ dieser Welt „ins Nirgends“ fallen.

Dabei hat doch das Wort, dass bis in den innersten Winkel der Welt energiegeladen einfährt einen Namen. Unmittelbar im Anschluss an unseren Predigttext schlüsselt der Hebrärbrief ihn auf. Da ist von Jesus von Nazareth die Rede. Er ist Gottes Wort, das lebendig, energiegeladen und schnittiger als ein zweischneidiges Schwert urteilt. Er ist es, der ins Herz schaut und das Leben endgültig zerlegt, das wir uns vor uns und anderen zusammengemalt haben.

Auf den Leinwänden unseres Lebens malt und erzählt Gott mit ihm, Jesus von Nazareth, seine Geschichte, die Geschichte Deines Lebens, die Geschichte der Kirche und auch dieser Stadtgesellschaft gemeinsam mit seiner eigenen Geschichte neu;  diese Geschichte hat die Energie in die Abgründe von Lebens- und Todesalpträumen hineinzugehen, um sie aufzufangen und umzuwenden. Darin liegt Gottes Passion, Gottes Lebensleidenschaft. Wieder haben wir Zeit,  Passions- und Osterzeit, um uns diese Geschichte erneut von Gottes Geist vor Augen geführt zu bekommen.

Und unsere Aufgabe beschränkt sich darauf, für diese Geschichte mit Leib und Seele durchlässig zu werden.

Lasst durch die schwarze Abtönfarbe unserer Abgründe hindurch die Farbakzente Gottes funkeln. Noch sind wir da. Und noch sind wir hier in St. Marien zu Celle. Ohne die erstaunliche Erzählung von der Lebensgeschichte im leibhaftigen Wort Jesus Christus würden wir uns heute nicht hier versammeln, hinreißender Musik lauschen, hören, beten, gemeinsam Kirche bilden.  Und damit ist klar: Rose Ausländer entdeckt Energie in der elementaren Kraft Worte zu verschenken. Welche Worte gilt es denn zu verschenken? Worte, die den „Himmel wachsen lassen“. Worte, die, wie es im Hebräerbrief heißt,  in jeder Silbe vor Augen haben: Wir reden von Gott und wir reden – vor – Gott.

Amen